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Neuland gewinnen – die Zukunft in Ostdeutschland gestalten
April 2017
Mit dem Sammelband „Neuland gewinnen – die Zukunft in Ostdeutschland gestalten“ ist es den Herausgeber*innen Siri Frech, Babette Scurell und Andreas Willisch mit dem Ch. Links Verlag gelungen, eine ungemein bunte, lebendige und Mut machende Perspektivenvielfalt auf ein Feld zu öffnen, das bisher vor allem in den Schreibhänden von Externen wie Wissenschaftler*innen oder Journalist*innen lag. Im Buch stellen sich 24 Projekte vor, geschrieben entweder von den Projektschaffenden selbst oder in Form von Interviews mit diesen. Sie alle sind Geförderte im Rahmen des Programms „Neulandgewinner“ der Robert Bosch Stiftung, durchgeführt vom Thünen-Institut für Regionalentwicklung e.G. Es ist aufgefächert in 10 Perspektiven, von der räumlichen, über das Engagement, die organisatorische bis zur gesamtgesellschaftlichen Perspektive und angereichert von externer Expertise.,Um den Appetit auf dieses so gelungene Buch anzuregen seien zumindest ein paar Projekttitel genannt: Generationenbahnhof, Wächterhöfe, Heim(at)arbeit, Werkstatt des guten Lebens, Schüler machen Geld – regionales Schülergeld, Landerlebnis – jenseits von Bullerbü, Wissenstausch – die Baruther Bank, Zukunfts-Projektor.,Die Projekte finden und stiften je auf ihre Weise Anschlussfähigkeit an das vorhandene Alte wie das in die Zukunft weisende Neue. Dabei gehört die Wirtschaft als Mittel zum Zweck der Gestaltung einer menschenwürdigen Gesellschaft ebenso dazu wie die Kultur als einer gesellschaftlichen Aktivität unter anderen. Wie auch die aktive Mitgestaltung von Kommunalpolitik. ,Auf unterschiedliche Weise wird über gewährende statt fürsorgende Strukturen gesprochen, über selbstorganisierte Teams statt über Hierarchie und Veränderungsmanagement, Energie- nicht Konsens-getriebenes Handeln, Handeln von unten nicht Fürsorge von oben, statt über einzelne Helden oder Apfelgräfinnen wird über gemeinschaftliches, ausdifferenziertes und konkretes Tun Identität und Zusammenhalt geschaffen. Übernommene Verantwortung möchte im Sinn des öffentlichen Interesses gestaltet werden – von der Mobilität über Wohnraumbeschaffung, Altenpflege bis zu Bildungslotsen. Gefragt wird auch, wie sich die noch häufig wenig kooperativen parallelen Strukturen gegenseitig wertschätzen, sich befruchten und ihr spezifisches Wissen gegenseitig integrieren können, „beziehungstaugliche Strukturen“ (S.225) entstehen. Wie können neue Übergänge zwischen Engagement und Wirtschaft ausprobiert werden? Wie können wir besser wahrnehmen, welche “Zukunft der ländliche Raum sich schaffen kann“ (S.243)? Wie kann Engagement für etwas statt Verwaltung des Mangels gedeihen? Wie können also Form (oder Struktur) und Inhalt auf einer neuen Ebene miteinander in Kontakt gebracht werden, so dass Engagement aufgrund von Zwängen die Basis für den Aufbruch zu gemeinsamen Zielen als Keimzelle sozialer Innovation wird?, Im Kapitel „Gesellschaft und Transformation“ berichten fünf Expert*innen aus Sicht ihrer Disziplin auf das Feld: Die Soziologin Cordula Kropp mit ihrem sehr anregenden und praxiserfahrenen Beitrag unter dem nachgerade kampfeslustigen Titel „Innovationspolitik der Praxis“. Klaus Overmeyer, Landschaftsarchitekt und Raumentwickler denkt über Raumunternehmertum nach, das neben dezentralen Lösungen die Spezifik jedes Einzelfalls ins Auge nimmt. Die Notwendigkeit der Zusammenarbeit von allen lokalen Akteuren rückt ins Zentrum, von Bürgerinitiativen über Verwaltung, Politik bis zu entferntest vor Ort verbundenen Unternehmen. Er plädiert dafür, neue Modelle der Zusammenarbeit zu „erfinden… für hybride Aufgabenteilungen und neue Kooperationen“ (S.167). Welch ein Glück, dass es diese Modelle bereits in zukunftsfähigen Organisationen und Unternehmen gibt und zum Beispiel Frederic Laloux in „Reinventing Organizations“ eindrücklich beschreibt. Eher mechanistisch, kontrollierend orientierte Raumplanung und Wirkungsanalyse könnten aus einer evolutionären Perspektive aufgehen in einem organischen, lebendigen und beweglichen Wirksystem, das sich an einem Zweck orientiert, der sich immer wieder den unvorhergesehenen realen Herausforderungen anpasst: ein sinnstiftender Zweck, der möglichst viele einbindet, aus ihrer je aktuellen Lebenswelt heraus und mit offenem Blick die Vergangenheit wertschätzt, sich von Möglichem inspirieren lässt und jetzt handelt. Zweck wird es so, aktiv und von vielen gemeinsam getragen das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. Vergleichbar mit Schweizer Bergdörfern und den dortigen jahrhundertealten partizipativen Strukturen oder der ganz spezifischen Form von Gemeinschaft in den skandinavischen Ländern. Es war und ist nicht primär eine Frage des Wollens, sondern schlicht des Überlebens, das nur als aktiver Teil einer Gemeinschaft in extremen Naturräumen zu sichern ist. ,Lukas Beckmann, Vorstand u.a. der GLS Treuhand denkt über das Kredit gewähren in einer geldgesättigten Ära nach. Er plädiert dafür, dass Innovationen von der Idee getragen sein müssen, die „uns aus der Zukunft begegnen“ (S.169) und verweist darauf, dass Geld als Ziel Entwicklung auch hemmen könne. ,Visuell überzeugen nicht nur die liebevoll-aufrichtigen Fotos, die zum allergrößten Teil Jörg Gläscher als seit 2015 das Programm fotografisch Begleitender aufgenommen hat, sondern ebenso die einseitigen Projektporträts im Sinne von Steckbriefen zu Beginn der einzelnen Beiträge.,Die Einleitung der Herausgeber*innen fasst das weite Spannungsfeld der so unterschiedlichen Projekte klug und handhabbar zusammen. Zugleich entstehen beim Lesen viele offen bleibende Fragen: wie kann Verständnis für und Wissen über die unterschiedlichen Positionen erlangt werden? Wie kann das kleinteilige, erfolgreiche Engagement nicht nur in die Fläche gebracht werden, sondern Anschluss finden an vorhandene überregionale Strukturen? Wie kann Kontakt miteinander so gestaltet werden, dass Vertrauen in die Emergenz entsteht und, neudeutsch, das Design – früher hieß es Planung – nicht die Oberhand behält?,Neuland beschreibt nicht nur die Räume, sondern ebenso die Strukturen, die neu zu gestalten sind. Die vorhandenen Strukturen sind gut und hilfreich solange das Ziel planbar und sicherlich kompliziert, aber nicht komplex und unvorhersehbar oder unüberschaubar ist. In der gegenwärtigen Situation wird Planung jedoch allzu oft bereits mit ihrem Abschluss rechts von der Realität überholt, so dass kleinere, schnellere und gemeinschaftliche Strukturen mit steigender Selbstverantwortung der Situation angemessener erscheinen. Von Unterschiedlichkeit geprägte Teams mit einer klaren gemeinsamen Ausrichtung, die aktuelle Herausforderungen auf einer gemeinschaftlichen Basis annehmen, Stabilität schaffen, wirtschaftlich lokal verankert und zugleich Teil eines überregionalen Netzwerks sind: ein zukunftsfähiges Innovationsmodell für den ländlichen Raum?! ,Dieser Band ist eine Schatzkiste für all jene, die neugierig sind und den Mut haben, Gewohnheiten wie auch lieb gewonnenes hinter sich zu lassen, um der Wirklichkeit angemessen und aufrecht begegnen zu können und, zukunftsfähiges Neues anzustoßen.